Die Komplexität internationaler Lieferketten ist in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen. Die zunehmende Spezialisierung einzelner Unternehmen zieht eine Fremdvergabe und Auslagerung unterschiedlicher Fertigungsprozesse nach sich. Die Auswahl geeigneter Lieferanten stellt dabei eine zentrale Aufgabe des Einkaufsprozesses dar. Da sich heutige Lieferketten meist über mehrere Kontinente hinweg erstrecken, kommt es vermehrt zu Störungen oder Unterbrechungen, welche weitreichende Folgen haben können. Ein zentrales Ziel ist daher, bestehende Lieferketten vor potenziellen Störungen zu schützen. Die Berücksichtigung des Faktors Resilienz innerhalb von Lieferketten konnte im Rahmen des Forschungsvorhabens „Bewertungsmaß für die Resilienz als Kriterium für die Zuliefererauswahl“ (ReKriWahl) auf den Auswahl- und Bewertungsprozess von Lieferanten übertragen werden – ein Forschungsprojekt des Instituts für Integrierte Produktion Hannover (IPH).
Grundsätzlich erfolgt eine Bewertung und anschließende Auswahl geeigneter Lieferanten anhand vordefinierter Zielkriterien. Diese können durch jedes auswählende Unternehmen individuell festgelegt und in vielen Fällen durch eine Selbstauskunft der Lieferanten erhoben werden. Diese Vorgehensweise wurde aufgegriffen und hinsichtlich der Beurteilung von Resilienz erweitert. Die Resilienz als Gestaltungskonzept vereint dabei die Perspektive der Stör- oder Risikofaktoren, welche auf die Beziehung von Kunden und Lieferanten (als Teile einer komplexen Lieferkette) wirken und Erfolgsfaktoren, welche die Beziehung stärken und so den Risikofaktoren vorbeugen. Neben allgemeinen Anforderungen an die Lieferanten (beispielsweise Qualitätsstandards oder Kosten) muss weiterhin eine Risikobewertung der Kunden-Lieferanten-Beziehung zur Identifikation und Bewertung potenzieller Risikogrößen erfolgen. Darauf aufbauend können die im Rahmen der Selbstauskunft ermittelten Erfolgsfaktoren diesen Risikogrößen gegenübergestellt werden.
Im Rahmen des Forschungsvorhabens „ReKriWahl“ wurde eine Methode entwickelt, die sowohl für die
Auswahl neuer als auch die Bewertung beziehungsweise Entwicklung bestehender Lieferanten eingesetzt werden kann. Die Methode wurde in einem vorwettbewerblichen Software-Demonstrator
implementiert. Das auswählende Unternehmen besitzt zunächst die Möglichkeit, Rahmenbedingungen und Anforderungen an den Lieferanten festzulegen. Dies bezieht sich auf die Bewertung der
Produktbedeutung (beispielsweise Anteil am Umsatz) und der Lieferantenabhängigkeit (beispielsweise Multiple Sourcing). Weiterhin kann festgelegt werden, in welchen Risikokategorien
(beispielsweise Zeit- oder Mengenrisiko) es den Schwerpunkt in der Zusammenarbeit mit dem Lieferanten sieht. Für eine detaillierte Auswertung der Ergebnisse können die vorgegebenen Risiko- und
Erfolgsfaktoren zusätzlich individuell gewichtet werden. Dem Lieferanten wird ein Fragebogen zur Selbstauskunft zur Verfügung gestellt. Die Antworten beziehen sich sowohl auf potenzielle Risiken
als auch auf vorhandene Erfolgsfaktoren. Parallel dazu beurteilt das auswählende Unternehmen ebenfalls seine eigenen Resilienzpotenziale.
Diese Vorgehensweise bringe den Vorteil mit sich, die vorhandene Resilienz des Lieferanten der notwendigen Resilienz des Unternehmens gegenüberstellen zu können, beschreibt Projektingenieur und Projektleiter Andreas Nitsche. Im Ergebnis kann der Lieferant sowohl hinsichtlich der vorhandenen Risiken beziehungsweise Störgrößen als auch der bestehenden Resilienzfaktoren bewertet werden. Die im Zuge des Methodeneinsatzes generierten Ergebnisse bieten eine Entscheidungsgrundlage für die Auswahl neuer und eine Diskussionsgrundlage für die gezielte Weiterentwicklung bestehender Lieferanten. Das Projekt wurde im Rahmen des Programms „Industrielle Gemeinschaftsforschung (IGF)“ durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages im Auftrag der Bundesvereinigung Logistik e.V. (BVL) gefördert.
Das IPH forscht praxisnah in produktionstechnischen Fragestellungen und unterstützt Industrieunternehmen beratend in den Disziplinen Layoutplanung, Automatisierung und Digitalisierung, Software-Auswahl oder Ergonomie. Neben den Kernthemen Prozesstechnik, Produktionsautomatisierung und Logistik wird auch zu Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Additiver Fertigung geforscht. Das Thema Resilienz wird darüberhinaus in anderen Forschungsvorhaben wie dem Projekt „VIPer“ aufgegriffen, das sich mit künftiger Gestaltung von Software-Lösungen beschäftigt.
Bild 1: IPH
Bildbeschreibung: Am IPH arbeiten rund 30 wissenschaftliche Mitarbeitende interdisziplinär an den Kernthemen Logistik, Prozesstechnik, Produktionsautomatisierung.
Bild 2: IPH
Bildbeschreibung: Projektingenieur und Projektleiter Andreas Nitsche